
Liebe Genossinnen und Genossen aus Lateinamerika und der Welt, die uns besuchen: Wir heißen euch herzlich Willkommen. Wir senden euch Grüße aus unseren Gemeinden, von den Feldern, den Straßen, den Fabriken, den Universitäten und allen Orten, die von denen, die den Traum einer demokratischen und populären Revolution zerstört haben, nie betreten werden. Wir würden euch gerne unsere Gemeinden einladen, um euch eine Realität zu zeigen, die sich von der offiziellen Darstellung unterscheidet. Wir möchten mit euch über folgende Punkte sprechen:
1. ARBEIT
Die materiellen Lebensbedingungen der arbeitenden Klasse: Wir, die von unserer Arbeit leben, kämpfen seit fast einem Jahrzehnt ums Überleben – mit den niedrigsten Einkommen weltweit und dem fast vollständigen Verlust der im 20. Jahrhundert erkämpften Rechte. Das Konzept der Lohnarbeit wurde zerstört und unsere Kinder, Geschwister, Eltern und verlassen das Land, um nicht zu verhungern. Der Lebensstil und Konsum der herrschenden politischen Elite steht in krassem Gegensatz zu der Situation, in der venezolanische Migrant:innen in euren Ländern leben, völlig vernachlässigt von den diplomatischen Vertretungen unseres Landes.
Die Regierung, geführt von einer politischen Elite, spricht von Sozialismus, veranstaltet jedoch regelmäßig protzige Abendessen in Hotels, Restaurants und im Regierungspalast, während Tausende Kinder hungrig ins Bett gehen. Sie reden von der wirtschaftlichen Erholung des Landes, aber die Löhne sinken weiter. Wohin geht das Wirtschaftswachstum? Wer profitiert davon? Die arbeitende Bevölkerung ist es jedenfalls nicht.
2. POLITIK
Die politischen Freiheiten der arbeitenden Menschen sind in einer dramatischen Lage: Das Recht auf Streik und Protest in Venezuela ist praktisch ausgesetzt. Es gibt keine Möglichkeit, arbeitsrechtliche Forderungen durchzusetzen. Die Arbeiter:innenklasse kann nicht protestieren, wie es in euren Ländern üblich ist, ohne sofort als Verschwörer oder Verräter verleumdet zu werden. Würdet ihr das in euren Ländern akzeptieren? Dutzende Arbeiter:innenführer und Beschäftigte stehen vor Gericht, werden verfolgt oder sind inhaftiert – nur weil sie eine Lohnerhöhung gefordert haben. Allein aus Perspektive der Unterdrückten rebellisch zu denken und dies offen auszusprechen gilt schon als Verbrechen und reicht aus, um die Funktionäre und neuen Reichen gegen sich aufzubringen.
3. DEMOKRATIE
Ohne die Linke gibt es keine Demokratie: Innerhalb des PSUV existiert die Linke nicht einfach organisch – weder in der politischen und intellektuellen Führung noch auf Ebene der Aktivist:innen an der Basis. Diejenigen, die sich dem von Chávez skizzierten Projekt der Soberanía y Poder Popular verbunden fühlen, werden durch Sektierer blockiert, die den neoliberalen Konsens verteidigen. Alle linken Parteien, die Chávez einst unterstützten, sind heute kriminalisiert, unter staatliche Kontrolle gestellt, und ihre rechtmäßigen politischen Führungen Vertretung beraubt. An ihrer Spitze stehen von den Machtorganen eingesetzte Marionetten, die sich ihren Gehorsam bezahlen lassen und Organisationen zersetzen, die auf jahrzehntelange Tradition und Kämpfe zurückblicken.
Kritik, die in vielen Ländern selbstverständlich ist, führt in Venezuela zur sofortigen staatlichen Intervention gegen politische Organisationen. Doch die Linke bleibt in den Territorien und an der Basis aktiv. Sie bewahrt die Träume von einer besseren Zukunft und baut neue Hoffnung auf. Für die Regierung bedeutet Politik nichts anderes als Gehorsam gegenüber ihren Entscheidungen. Der rebellische Geist von Chávez lebt nur noch in Parolen und der offiziellen Inszenierung auf Parteiveranstaltungen fort. Der Regierung ist es gelungen, Chávez seines populären und revolutionären Wesens zu berauben.
4. FASCHISMUS
Immer wenn politische Spannungen in Venezuela zunehmen, schürt die Rechte Wellen von Hass und faschistischer Gewalt. Der Faschismus hat in Venezuela tatsächlich an Boden gewonnen – sowohl bei den traditionellen konservativen und sozialdemokratischen Parteien, die sich nun offen anti-sozialistisch zeigen, als auch innerhalb der PSUV, die den neoliberalen Postsozialismus zu ihrer Ideologie gemacht hat.
Diese Entwicklung öffnet den Weg für einen Konsens, der in einem neuen Gesellschaftspakt zwischen Regierung und Opposition münden könnte – ein Pakt, der die demokratischen Freiheiten und die hart erkämpften Rechte der arbeitenden Klasse und der einfachen Bevölkerung bedroht.
In Venezuela entsteht ein Neofaschismus, bei dem Regierung, PSUV und die extremistische Rechte der Opposition gemeinsam als Geburtshelfer agieren. Dieser neue Faschismus wird durch einen inhaltsleeren antifaschistischen Diskurs verschleiert, der in der venezolanischen Realität keinerlei Entsprechung findet.
Man sollte sich fragen: Warum gibt es in Venezuela keinen Fortschritt beim Recht auf Abtreibung, bei der Ehe für alle oder bei der Legalisierung von Marihuana? Warum werden das Streikrecht und andere erkämpfte Arbeitsrechte immer weiter eingeschränkt, während die Angst vor abweichenden Meinungen wächst? Warum wurden nach dem 28. Juli Dutzende Jugendliche verhaftet, und warum wurden sie sowohl von der Regierung als auch von der rechten Opposition im Stich gelassen?
Der sogenannte Antifaschismus erweist sich als Farce, hinter der sich ein neoliberaler Autoritarismus verbirgt. Die sozialen Proteste nach dem 28. Juni waren überwiegend populär und friedlich, – faschistische und gewalttätige Elementen fanden sich nur am Rande. Dennoch wurden sie durch Kriminalisierung sowie staatliche und parastaatliche Repression massiv unterdrückt. Abseits des Wahlkonflikts verlangt die Fortführung von Ausbeutung und Enteignung sowie die Verteidigung der Kapitalinteressen eine immer weitere Verfeinerung juristischer, politischer und ideologischer Instrumente, um soziale Konflikte und Klassenkampf zu kontrollieren und einzuhegen. Gesetze und Gesetzesvorschläge wie das Gesetz gegen die Sanktionen, das Gesetz gegen den Hass, das sogenannte Antifaschismus-Gesetz, die Regelungen zu Nichtregierungsorganisationen und Änderungen des Wahlrechts zielen heute darauf ab, diese Mechanismen der Herrschaft zu festigen – unter dem Vorwand, einer angeblichen faschistischen Bedrohung entgegenzutreten.
5. GEOPOLITIK
Der Antiimperialismus wird mit Chevron gefeiert: Oft werden die Sanktionen für die Verschlechterung der sozialen Bedingungen verantwortlich gemacht. Doch begann der Niedergang bereits vor deren Einführung und hat sich durch sie lediglich weiter verschärft. Der Anstieg der Ölproduktion in den letzten Jahren dient primär dazu, die Energieversorgung der Gringos sicherzustellen – jener Nation, die angeblich bekämpft wird. Gleichzeitig wird den USA gestattet, venezolanisches Öl zu fördern, ohne der Nation auch nur einen Cent zurückzugeben. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts haben wir in Venezuela noch nie unter so neokolonialen Bedingungen Öl verschenkt. Die Einnahmen bewirken kaum eine Verbesserung des Alltags der Menschen. Der deklarierte Antiimperialismus entpuppt sich als hohle Parole, die den neuen Reichen Venezuelas zur Identitätsstiftung dient.
6. NEOLIBERALISMUS
Wie sich die Bourgeoisie in Venezuela konstituiert: In Venezuela hat sich die Bourgeoisie durch die Aneignung der Erdölrente, Vorteile auf dem Devisenmarkt, Importlizenzen sowie Zoll- und Steuerbefreiungen gebildet. Der Zugang zu politischer Macht ist die entscheidende Hürde, die es zu überwinden gilt, um reich zu werden. Aus diesem Grund kämpfen sowohl die konservative Rechte als auch der Madurismus erbittert um die Kontrolle der Regierung: Beide Gruppen sind Teil der alten und neuen Bourgeoisie. Es gibt kein revolutionäres oder widerständiges Produktionsmodell; was vorherrscht ist die Ausbeutung natürlicher Ressourcen und die Liberalisierung der Wirtschaft.
7. LAND
Die Ländereien, die Chávez einst der Landbevölkerung übergab, kehren heute in die Hände der Großgrundbesitzer zurück: Das zamoranische Ideal «Land für diejenigen, die es bearbeiten», das Chávez einst vertrat, ist heute nur noch eine Karikatur. Das, was der Bevölkerung einst gerecht zugesprochen wurde, wird ihr nun wieder genommen. Die alten Landbesitzer fühlen sich unter der Regierung Maduros wieder gehört und berücksichtigt. Darüber hinaus wurden in den letzten Jahren 12 Millionen Hektar Land in der so genannten „östlichen Agrarwirtschaftszone“ an die internationale Agrarindustrie übergeben.
8. PRODUKTION
Abschied von den zurückgewonnenen Fabriken: Die Regierung Maduro hat kürzlich 350 öffentliche Unternehmen an die in Conindustria organisierte Bourgeoisie übergeben, um Vereinbarungen mit allen Fraktionen der Bourgeoisie zu schließen. Währenddessen warten die Arbeiter:innen dieser Unternehmen weiterhin auf die Auszahlung ihrer Abfindungen und Sozialleistungen: Es ist ein «Friede zwischen Reichen» und eine Abmachung zwischen Skrupellosen.
9. BOLIVARIANISMUS
Demokratie auf dem Boden des Bolivarianismus: 1996 rief Chávez uns auf, mit der politischen Waffe der Demokratie eine Revolution aufzubauen. Millionen Venezolaner:innen folgten ihm nicht nur, sondern entwickelten auch fortschrittliche Formen der Partizipation. Heute jedoch beschränkt sich die Demokratie auf Wahlen, deren Ergebnisse den Wünschen und Bedürfnissen der Herrschenden angepasst werden. Die Wahl vom 28. Juli, an dem Millionen Venezolaner:innen teilnahmen, wurde zur Farce. Der Nationale Wahlrat (CNE) setzte sich über das Gesetz und die demokratische Tradition Venezuelas hinweg, ignorierte das Wahlrecht und verstieß gegen den Volkswillen. Auch Monate nach der Wahl hat das Volk immer noch keine Möglichkeit, zu überprüfen, ob sein Wille respektiert wurde. Demokratie ist keine Frage des Glaubens, sondern ein durch die Bürger:innen überprüfbarer und kontrollierbarer Prozess. Ohne politische Demokratie werden die Möglichkeiten der Arbeiter:innenklasse, einen eigene Stimme zu vertreten, weiter eingeschränkt.
10.CHÁVEZ
Das Projekt von Chávez wurde verraten: Ein neuer Chávez wurde erschaffen, passend zu den Interessen derjenigen, die die Macht innehaben – eine revolutionäre Karikatur. Währenddessen erinnert sich das Volk auf den Straßen an den Chávez des „Por Ahora“ von 1992, das Symbol, das zurückkehren wird, wenn der Widerstand gegen den maduristischen Verrat am bolivarianischen revolutionären Projekt wiedererstarkt. Chávez wurde verraten, und das Volk weiß es.
11. VERFASSUNGSREFORM
Im Jahr 1999 gaben wir uns eine Verfassung, die im Geist der sozialen Gerechtigkeit steht. Das gesamte Projekt zur radikalen Transformation der venezolanischen Gesellschaft ist in dieser Verfassung enthalten, die wir in einer Zeit des Aufstiegs der populären Beteiligung entworfen und per Referendum verabschiedet haben. Der Versuch, diese Verfassung zu reformieren, während neoliberale und autoritäre Ideen auf dem Vormarsch sind, kann nur einen Rückschritt für diesen rechtlichen Rahmen bedeuten. Mit Chávez sagen wir: “Innerhalb der Verfassung alles, außerhalb von ihr nichts.”
12. ORGANISIERUNG
In Anlehnung an den guaranischen Schriftsteller Tadeo Zarratea sagen wir: „Wir wollen weder den Kommissar noch den Richter austauschen. Das wird nichts ändern. Was uns bedrückt, ist unsere Realität, und genau diese wollen wir verändern. Wir organisieren uns, um unsere Lebensrealität zu verändern. Bitte versteht, dass das Volk nicht im Regierungspalast sitzt.“
13. UNTERSTÜTZUNG
Wir möchten mit den populären Bewegungen und den stets kämpfenden linken Kräften zusammenkommen: Wir möchten mit euch diskutieren, aus der Perspektive von Menschen, die sich organisieren und Widerstand leisten. Wir wissen, dass ihr in euren Ländern Kämpfe führt und begleitet. Heute bitten wir euch, die Kämpfe des venezolanischen Volkes zu unterstützen – und nicht das Überleben derjenigen, die im Namen des Volkes von der Macht profitieren.
Abschließend eine kurze Reflexion: In Venezuela haben in den letzten 25 Jahren zwei politische Prozesse parallel existiert: eine Revolution und eine Regierung. Über viele Jahre hinweg wurde die Revolution, getragen von sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, Organisationen und politischen Parteien, von Hugo Chávez geführt. Sie erreichte historische Erfolge beim Aufbau eines sozial transformatorischen Modells und förderte Produktion, Arbeit, Organisation, Rebellion und eine gerechte Umverteilung des Wohlstands – stets im Widerstand gegen den Imperialismus und die heimatlosen Bourgeoisien. Unter Chávez gelang es, die Regierung zu übernehmen, was entscheidend zur Beschleunigung der Errungenschaften der Revolution beitrug. Mit Chávez an der Spitze verfolgte die Regierung eine revolutionäre und populäre politische Richtung. In den letzten zehn Jahren jedoch hat die bolivarianische Revolution an Bedeutung verloren und findet sich nicht mehr in den Maßnahmen der aktuellen Regierung wieder. Die Ergebnisse sind offensichtlich, und einige davon haben wir in diesem Dokument angesprochen, um sie mit euch zu diskutieren. Lasst euch nicht täuschen: Die Regierung zu unterstützen bedeutet nicht, die Bolivarianische Revolution zu unterstützen.
Wir laden euch ein, am Aufbau dieser anderen Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit teilzuhaben, an dessen Aufbau unser Volk – auch wenn es manchmal ruhig erscheinen mag – dennoch weiterhin unermüdlich und rebellisch wirkt.
Lxs Comunes, Januar 2025
Lesen Sie hier das Original.
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