Gegen den Missbrauch des Themas Antisemitismus durch rechte Medien und Politiker und deren Angriffe auf akademische Freiheit und Meinungsfreiheit, von Ben Gidley, Daniel Mang & Daniel Randall – 20. Mai 2024

In einer von uns verfassten Erklärung, die im Dezember 2023 unter dem Titel „Für eine konsequent demokratische und internationalistische Linke“ veröffentlicht wurde, haben wir verdeutlicht, dass die Linke weltweit ein ernstes Antisemitismus-Problem hat. Wir haben gesehen, wie Ressentiments gegen Jüdinnen:Juden in Palästina-Solidaritätsbewegungen verstärkt und verbreitet wurden. Wir sind uns bewusst, dass sich Jüdinnen:Juden in der Diaspora angesichts des nachweislichen Anstiegs von Hassvorfällen gegen sie seit dem 7. Oktober 2023 gefährdet und angegriffen fühlen.

Der Kampf gegen (rechten und linken) Antisemitismus wird untergraben, wenn diejenigen, die sich als Verbündete von Jüdinnen:Juden ausgeben, unverantwortliche und ungerechtfertigte Vorwürfe machen und legitime Kritik an Israel als antisemitisch bezeichnen.

Während Teile der extremen Rechten (mit einigem Erfolg) versucht haben, an Palästina-Solidaritäts-Stimmungen anzuschliessen und die Wut über Aktionen des israelischen Staates in Hass auf Jüdinnen:Juden umzuwandeln, haben sich andere Teile der extremen Rechten – in Verfolgung ihrer eigenen Ziele – als Verbündete Israels ausgegeben.

Insbesondere haben wir gesehen, wie dieser Teil der Rechten, mittels unbegründeter Antisemitismus-Pauschalverurteilungen von Minderheiten, antimuslimischen Rassismus und Ressentiments gegen Migrant:innen genährt hat. Solche Anschuldigungen dienen dazu, die bereits bröckelnde Brandmauer zwischen der extremen Rechten und dem Mainstream-Konservatismus weiter zu ramponieren. Politiker wetteifern darum, Härte gegenüber angeblichen Terror-Unterstützer:innen zu demonstrieren, und missbrauchen jüdische Ängste für ihre Wahlkampfstrategien.

Dämonisierung und Kriminalisierung abweichender Meinungen, die Beschneidung der akademischen Freiheit und Angriffe auf die öffentliche Universität sind Teil einer weltweiten Entwicklung in Richtung Autoritarismus.

Es ist wichtig, den Antisemitismus in der Palästina-Solidaritätsbewegung zu bekämpfen.

In der gegenwärtigen politischen Situation wird das Thema Antisemitismus auch als Mittel in einem breiteren, autoritär-konservativen Kulturkrieg in Europa und Israel, Amerika und Ozeanien missbraucht.

Ähnliche Kulturkriege werden auch in anderen Teilen der Welt geführt, und es bestehen enge Verbindungen zwischen verschiedenen antifeministischen kulturellen Strömungen, religiös-fundamentalistischen Bewegungen und rechtsextremen Gruppen in verschiedenen Teilen der Welt.

Die Besonderheit des konservativen Kulturkriegs, von dem hier die Rede ist, besteht darin, dass er eine Reihe realer und imaginärer akademischer Konzepte (kritische Theorie, „Kulturmarxismus“, Intersektionalität, Dekolonialismus, „Gender-Ideologie“, critical race theory), studentischen Radikalismus sowie die Präsenz von Migrant:innen und Muslim:innen im „Westen“ mit der Figur des Terroristen und des Antisemiten verschmelzen.

Viele seiner Motive und Denkweisen, wie das Konzept des „Kulturmarxismus“ und die Vorstellung von mächtigen Lobbys, die von „Finanzeliten“ unterstützt werden und daran arbeiten, „traditionelle Werte“ zu untergraben, sind selbst antisemitisch.

Einige Organisationen, die in den Student:innenprotesten Einfluss haben, vertreten tatsächlich antisemitische Positionen – wie die Legitimierung von Gewalt gegen israelische Zivilist:innen und das Eintreten dafür, israelischen Jüdinnen:Juden Kollektivrechte zu verweigern.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass alle Teilnehmer:innen einfach als Antisemit:innen gebrandmarkt werden können.

Eine robuste Verteidigung der Meinungsfreiheit, sowohl innerhalb von Bewegungen als auch in der Gesellschaft im Allgemeinen, ist von entscheidender Bedeutung, um sicherzustellen, dass kritische Stimmen gehört und reaktionäre Ansichten direkt in Frage gestellt werden können.

Stattdessen sind viele Universitäten mit harter Hand und repressiv gegen die protestierenden Studenten vorgegangen. Leider haben auch viele Mainstream-Medien eine sehr negative Rolle gespielt, indem sie die Proteste – und alle, die sich für einen Dialog mit den Protestierenden einsetzen – vereinfachend und oft dämonisierend dargestellt haben.

Wir klagen insbesondere die Zeitungsgruppe Axel Springer an, deren Bild- und BZ-Zeitungen Wissenschaftler, die sich gegen die Kriminalisierung der Proteste ausgesprochen haben, als Unterstützer eines „Studentenmobs“ dargestellt haben, ihnen Judenfeindlichkeit vorwarfen und sie anklagten, willkürliche Gewaltanwendung zu verharmlosen – und ihre Diffamierung personalisierten, indem sie Fotos dieser Wissenschaftler im Stil von Fahndungsplakaten veröffentlichten.

Unter den Angegriffenen sind Wissenschaftler, die sich seit langem mit der Erforschung und Bekämpfung des Antisemitismus (auch des Antisemitismus in der Linken) befassen, wie Peter Ullrich, Fellow am Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin, oder der international renommierte Holocaust-Historiker Michael Wildt – welches deutlich macht, wie unaufrichtig die angebliche Besorgnis der Springer-Blätter über antijüdischem Rassismus ist.

In einer Zeit, in der Angriffe auf Jüdinnen:Juden zunehmen, brauchen wir Klarheit und Konsequenz beim Thema Antisemitismus. In einer Zeit, in der verschiedene communities zur Zielscheibe werden, brauchen wir mehr Dialog, nicht mehr Spaltung zwischen Minderheiten. In einer Zeit zunehmenden Autoritarismus und stumpfsinnigen Fahnenschwenkens müssen wir Räume des kritischen Denkens verteidigen. In einer Zeit entmenschlichender Gewalt gilt es, sich für akademische Freiheit und Meinungsfreiheit einzusetzen.

Ben Gidley, Daniel Mang, Daniel Randall

Um diesen Offenen Brief zu unterzeichnen, schreibt bitte an [email protected].

Unterzeichner:innen